Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
meine Damen und Herren,
„Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen, und ich finde es entsetzlich.“
„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt! Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist!“
Diese Sätze stammen von Sophie Scholl, der jungen Widerstandskämpferin, die gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und anderen Mitgliedern der Weißen Rose den Nationalsozialisten die Stirn bot und dafür mit ihrem Leben bezahlen musste.
Meine Damen und Herren,
ich habe lange darüber nachgedacht, ob man Sophie Scholl heute in dieser Debatte tatsächlich erwähnen darf.
Ist es legitim, eine der mutigsten Widerstandskämpferinnen des Dritten Reichs im Kontext der Pandemiebewältigung zu zitieren? Man gerät schnell in Gefahr, als wolle man das, was sich zwischen 1933 und 1945 in Deutschland ereignet hat, mit aktuellen Entwicklungen vergleichen.
Aber wir wissen: Nichts ist mit dem, was Menschen unter der NS-Herrschaft erlitten haben, vergleichbar. So ist die namentliche Nennung der Opfer des NS-Regimes eigentlich selbst dann Tabu, wenn man deutlich machen will, dass eben kein Vergleich zulässig ist. Niemand in unserem Land durchlebt auch nur im Ansatz, was Sophie Scholl und die anderen Widerstandskämpfer ertragen mussten, von den Millionen anderen Opfern ganz zu schweigen.
Ich gebe zu: Ohne die Vorkommnisse in Hannover vor gut einer Woche wäre ich nicht auf die Idee gekommen, eine Widerstandskämpferin in diesen Redebeitrag einzubeziehen.
Die irritierenden historischen Vergleiche rund um die fragliche Kundgebung in meiner Heimatstadt haben mich allerdings dann doch dazu veranlasst, mich noch einmal näher mit dem Leben und dem Vermächtnis Sophie Scholls zu beschäftigen. Kann man aus den überlieferten Gedanken dieser bemerkenswerten jungen Frau doch irgendetwas in der jetzigen Situation lernen?
Tatsächlich hat sie uns etwas zu sagen. Etwas, das auch heute nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt hat und vor allem jenen nicht gefallen dürfte, die sich zuletzt in grenzenlos scheinender Selbstgefälligkeit mit ihrem Wirken gemein gemacht haben.
„Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. […] Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!“
Meine Damen und Herren,
wenn wir nicht genau wüssten, an wessen Gewissen Sophie Scholl mit diesen Sätzen damals appelliert hat – an das Gewissen der Deutschen nämlich, nicht blind und herzlos einer faschistischen Elite in den Untergang zu folgen –, so könnte man fast glauben, sie riefe aus der Vergangenheit all jenen zu, die sich heute aggressiv und in Verkennung der Wirklichkeit gegen das stellen, was sie „Corona-Diktatur“ nennen, und auf Kundgebungen ohne Abstand und Maske die Gesundheit anderer aufs Spiel setzen.
Sophie Scholl kämpfte nicht gegen legitimiertes Recht. Sie kämpfte gegen das Unrecht. Sie konnte bis zu ihrer Ermordung nicht fassen, dass diesem so viele treu ergeben waren. Sie kämpfte nicht für individuelle und grenzenlose Freiheitsrechte, sondern für die kollektive Verantwortung für Frieden und körperliche Unversehrtheit. Empathie und Mitgefühl waren ihr Kompass, Gleichgültigkeit und Verblendung Anlass ihrer Mahnung.
„Gesundheit ist Privatsache!“
So hatte es eine Demonstrantin am Samstag vor einer Woche in Hannover auf ihr Pappschild geschrieben.
Unmissverständlicher und kälter kann man sich nicht von jenen Werten unterscheiden, für die Sophie Scholl gestorben ist.
Der Ausruf „Gesundheit ist Privatsache!“ erinnert schon an jene Gleichgültigkeit der Deutschen im Dritten Reich, die Sophie Scholl anprangerte, und die auf erschreckende Weise nun ausgerechnet durch jene zurückkehrt, die ihren Namen missbrauchen und für den eigenen Zweck zu instrumentalisieren versuchen.
Ein Virus, das unsere Mitmenschen gefährdet, das tausende von ihnen bereits getötet hat und bei noch sehr vielen mehr langfristigen Schaden an ihrer Gesundheit anrichten wird, ist keine Privatsache!
Ein Virus, das die Kapazitäten unserer Krankenhäuser und das medizinische Fachpersonal an seine Belastungsgrenzen bringt und die Behandlung anderer Krankheiten gefährlich verzögern kann, ist keine Privatsache!
Wie sich eine dicht besiedelte Nation wie die deutsche einer Pandemie und deren sozialen und wirtschaftlichen Folgen stellt, ist keine Privatsache, sondern im wahrsten Sinne eine „res publica“ – eine Angelegenheit, die jeden etwas angeht, eine komplexe noch dazu!
Wir alle sind gefragt, unsere Mitmenschen und damit das höchste Gut unserer Gemeinschaft zu schützen: das Leben der Anderen.
Und weil gutes Zureden, das Hoffen auf die Vernunft aller und abstrakte Appelle an jedermann und niemanden den Einzelnen offenkundig von seiner individuellen Verantwortung zu befreien scheinen, haben die demokratischen Institutionen dieses Landes auf Basis des unlängst reformierten Infektionsschutzgesetzes eine Reihe von Regeln formuliert, die wir alle kennen. An die sich der weit überwiegende Teil der Bevölkerung nicht immer kritiklos, aber diszipliniert und im Wissen um deren Notwendigkeit hält.
Meine Damen und Herren,
das Virus ist kontaktfreudig. Es liebt Menschen und springt nur zu gerne von Wirt zu Wirt. Deshalb ist die Reduktion von Kontakten auf ein absolutes Minimum nach einem einigermaßen sorgenfreien Sommer wieder das Gebot der Stunde – gerade jetzt, da unsere Heizungen auf Hochtouren laufen und warme Luftströme die Aerosole in Nasen- und Mundhöhe schweben lassen.
Die vor zwei Wochen von Bund und Ländern ergriffenen und nun bis Ende des Jahres verlängerten Maßnahmen haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Dynamik der zweiten Welle konnte auf relativ hohem Niveau gebremst und schließlich stabilisiert werden.
Die Krankenhäuser arbeiten an der Grenze, sind aber voll handlungsfähig. Es stehen – Stand jetzt – ausreichend Beatmungsgeräte und medizinisches Fachpersonal für den Winter bereit.
Nur, meine Damen und Herren: Allein zu hoffen, dass dies so bleibt, ist nicht genug. Es ist nicht genug, an die Vernunft zu appellieren, weil die Unvernunft weniger Unbelehrbarer die Erfolge der vielen mithelfenden Bürgerinnen und Bürger schnell zunichtemachen kann.
Wir können uns nicht leisten, auf etwas zu hoffen, das anderswo in Europa und der Welt krachend gescheitert ist. Gleichgültigkeit gegenüber Schwachen, Älteren und Vorerkrankten ist die Triebfeder für ein unkontrolliertes Infektionsgeschehen.
Deutschland und Niedersachsen haben trotz berechtigter Kritik an einzelnen Maßnahmen, Schließungen und Verboten in den vergangenen sechs Monaten eine im europäischen Vergleich gute Figur gemacht. Und zwar deshalb, weil wir ein solides Regelwerk aufgesetzt haben, an das sich die Bürgerinnen und Bürger halten, und weil nicht zuletzt verstärkte Kontrollen zu dessen Einhaltung beigetragen haben.
Jetzt gilt es, noch einmal jene Disziplin und Solidarität aufzubringen, die uns in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie so sehr geholfen und beeindruckt haben.
Dabei bin ich mir durchaus darüber im Klaren, dass viele der verlängerten und erweiterten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus nicht nur auf Gegenliebe stoßen.
Während wir zur Zeit der ersten Infektionswelle noch wenig über das Virus wussten und allerlei Einschränkungen auch deshalb klaglos hingenommen haben, mehren sich die Stimmen jener, die meinen, ihr jeweiliger Lebensbereich sei nicht verantwortlich für die Ausbreitung des Virus und könne daher verschont bleiben.
Als Abgeordneter erhalte ich täglich Zuschriften von selbstständigen Kosmetikerinnen, von Restaurantbetreibern, von Sportvereinen, die darum bitten, die Maßnahmen doch wenigstens zu lockern. Nicht selten wird argumentiert: „Bei uns kam es zu keinen Ansteckungen, zumindest sind uns keine bekannt.“ Oder auch: „Wenn die Schüler vormittags in einer Klasse sitzen, können sie doch auch nachmittags gemeinsam Fußball spielen.“
Meine Damen und Herren,
ich will all diese Kritik an unseren Corona-Maßnahmen nicht als völlig unbegründet abtun. Viele Argumente kann ich sogar sehr gut nachvollziehen. Aus dieser Kritik erwächst eine Verpflichtung.
Wir Politiker geben uns gerne der Illusion hin, dass einmal Erklärtes überall und dauerhaft verstanden wird. Doch dem ist nicht so. Die Politik darf angesichts der Schwere der Eingriffe nicht müde werden zu erklären, warum wir welche Maßnahmen ergreifen und in welchem Umfang. Dann, und nur dann, haben wir die Chance, jene Kritiker und Zweifler zu überzeugen, die wir noch nicht an Verschwörungstheoretiker und die sogenannten „alternativen Medien“ verloren haben.
Ich möchte daher noch einmal herausstellen, warum die Maßnahmen wieder verschärft wurden und vorherige Lockerungen auch in einzelnen Lebensbereichen nicht möglich sein werden.
Fakt ist: Wir wissen nicht, wo sich die Menschen mit dem Corona-Virus infizieren. In über 80 Prozent der bekannten Fälle können wir nicht sagen, welche Begegnung für die Ansteckung verantwortlich war. Daraus folgt, dass wir über keine solide Datenbasis verfügen, die uns die Öffnung spezieller Lebensbereiche ermöglichen würde. Es wäre ein Tappen im Dunkeln zu Lasten derer, die wir schützen wollen.
Was wir hingegen wissen, ist, dass überall dort, wo Menschen zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenkommen, die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs deutlich steigt. Nur mit einer konsequenten Reduktion der persönlichen Kontakte können wir das verhindern, und deshalb müssen wir in den kommenden kalten Monaten wieder auf vieles verzichten, das unser Leben erst lebenswert macht.
So verhindern wir einen erneuten vollständigen Lockdown und können weite Teile des Wirtschaftslebens aufrechterhalten. So verhindern wir, dass Kinder und Jugendliche erneut nicht zur Schule gehen können und ermöglichen den für ihre Entwicklung so wichtigen direkten Kontakt zu Gleichaltrigen.
Meine Damen und Herren,
wir haben es möglicherweise bald geschafft. Die Nachricht über die Entwicklung und baldige Zulassung eines massengeeigneten Impfstoffes, der einen 95-prozentigen Schutz vor einer Infektion bieten soll, hat auch mich sehr gefreut. Es scheint, als würde das Licht am Ende des Tunnels immer heller. Wir können es fast schon greifen.
Doch noch ist es nicht soweit. Noch müssen wir ein paar Monate durchhalten, kalte und dunkle Monate. Hierfür müssen wir alle zusammenstehen und die harten Regeln befolgen, um Menschenleben zu retten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.